Christian Berkel : Der Apfelbaum

Diese Familiengeschichte wirft Schlaglichter auf die Katastrophe des 20. Jahrhunderts

Christian Berkel ist ein bekannter Schauspieler und Sprecher von Hörbüchern. Seit einigen Jahren ist er aber auch ein erfolgreicher Romanautor. Sein Erstling „Der Apfelbaum“ erschien 2018 und landete auf den Bestsellerlisten. Christian Berkel verarbeitet darin seine Familiengeschichte, und auf der Buchrückseite liest man als prägnantes Bonmot hierzu: „Jahrelang bin ich vor meiner Geschichte davongelaufen. Dann erfand ich sie neu.“

Es ist in der Tat eine Familiengeschichte, der nacherzählt werden will. Christian Berkels Vater war ein Berliner Junge namens Otto, geboren 1915, drei Monate, nachdem sein Vater im Ersten Weltkrieg gefallen war. Sein Stiefvater im Roman versuchte, ein Kriegstrauma im Alkohol zu ersäufen und verprügelte Frau und Kinder. Später in der Schule erging es dem kleinen und schwächlichen Otto nicht viel besser – bis er beschloss, sich nichts mehr gefallen zu lassen. Er trainierte Klimmzüge an der Teppichstange im Hinterhof, Ziegelsteine wurden seine Hanteln. Er wurde Ringer, verdiente eigenes Geld mit Nebenjobs, zeigte in der Schule viel Grips, gewann Selbstbewusstsein. Dennoch landete er irgendwann in der Kleinkriminalität. Während eines Einbruchs in einer vornehmen Wohnung in Friedenau wurde der 17-Jährige ertappt von der Tochter des Hauses, dem 13-jährigen Mädchen Sala. Sie wurde die Liebe seines Lebens.

Sala stammte aus großbürgerlichen Verhältnissen. Ihr Vater Jean war ein Schöngeist und Bohemien, ihre Mutter Iza, eine Jüdin polnischer Abstammung, hatte Mann und Tochter verlassen und kämpfte im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco. Salas und Ottos gemeinsames Glück, wohlwollend begleitet von Salas Vater Jean, der Otto Zugang zu Bildung und Kultur eröffnete, währte nicht lange. Als der Druck der Nationalsozialisten auf jüdische Menschen in Deutschland zu groß wurde, begann eine Odyssee für Sala. Mit viel Glück entging sie der Deportation nach Auschwitz und konnte sich bis zum Kriegsende unter falscher Identität durchschlagen. Berlin, Madrid, Paris, Leipzig und zuletzt Buenos Aires – nirgends konnte sie auf Dauer bleiben.

Otto studierte Medizin in Berlin, kam als Sanitätsarzt mit der Wehrmacht nach Russland, geriet in Kriegsgefangenschaft und kam erst 1950 wieder nach Deutschland. Nach vielen Jahren sahen sich die Liebenden endlich wieder und blieben zusammen. Es war keine unkomplizierte Beziehung, aber ohne einander konnten Otto und Sala auf Dauer auch nicht sein.

Christian Berkel hat für diesen Roman ausführlich recherchiert und Reisen an die wichtigsten Orte unternommen, denn was die Eltern ihm von ihrer Vorgeschichte erzählt haben, hätte kein kohärentes Bild ergeben. Als Rahmenhandlung fungieren Gespräche Berkels mit seiner alt gewordenen Mutter, die langsam in die Demenz abgleitet, sowie Reflexionen über seine eigene Identität.

Berkel blieb gar nichts anderes übrig, als seine Geschichte neu zu erfinden, und das tut er virtuos. Das „Personal“ sowohl der mütterlichen als auch der väterlichen Herkunftsfamilie gewinnt in seiner Darstellung lebendige Präsenz. Zentrale Ereignisse sind so eindrücklich erzählt, dass sie sich wie opulente Filmszenen einprägen, die Dialoge sind knapp und pointiert.

Inzwischen hat Berkel bereits einen Nachfolgeroman mit dem Titel „Ada“ veröffentlicht. Ada, die (fiktive) Tochter von Otto und Sala, gezeugt bei einer kurzen Begegnung der beiden in Leipzig kurz vor Ende des Krieges, verbringt den größten Teil ihrer ersten Lebenszeit mit ihrer Mutter in Argentinien. Ihren Vater Otto lernt sie erst als 10-Jährige kennen, als Sala und Otto wieder zusammenfinden. Auch Ada macht es zu schaffen, dass die Eltern es nicht vermögen, dem Kind ein kohärentes Bild ihres früheren Lebens zu vermitteln.

Vom Schriftstellerkollegen Daniel Kehlmann wurde Berkels Roman „Der Apfelbaum“ als „das lebensgesättigte, große Epos über deutsche Geschichte“ beworben. Es ist sicher nicht die, aber eine unverwechselbare Geschichte unter den vielen individuellen Schicksalen aus der kriegsversehrten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die erzählt werden müssen. Berkel vernimmt aus seiner Herkunft die „Aufforderung an nachfolgende Generationen, also auch an uns, Erinnerung zu wagen, um dem unbewussten Wiederholungszwang vorzubeugen.“ Und sich dem entgegenzustellen, was viele in Bezug auf die Beschäftigung mit der jüngeren deutschen Geschichte meinen: „Irgendwann muss doch mal Schluss sein.“

Christian Berkel: Der Apfelbaum. Roman. Ullstein Verlag Berlin 2018. als TB 413 Seiten. (vom Autor auch als Hörbuch eingelesen)

Besprechung vom April 2021

Sabine Skudlik