Leonard Bernstein : Gustav Mahler - "The Little Drummer Boy" (DVD)

Mahlers Musik hören und begreifen
Leonard Bernstein erklärt Gustav Mahler

Aus Anlass des Konzerts mit Mahlers 3. Symphonie am 9. Oktober [2016] in der Landsberger Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt möchte ich heute ausnahmsweise kein Buch zur Lektüre empfehlen, sondern eine DVD zum Schauen – und mehr noch zum Hören!

Es handelt sich um einen höchst interessanten Fernseh-Essay über Gustav Mahler von und mit Leonard Bernstein, produziert für die BBC im Jahre 1984, rechtzeitig zu Mahlers 125. Geburtstag.

Leonard Bernstein (1918-1990) war bzw. ist als Dirigent bis heute einer der größten Mahler-Interpreten und -Exegeten, sicher auch einer der eigenwilligsten. Dass Mahler heute ein häufig aufgeführter und in all seiner Vielschichtigkeit erforschter Komponist ist, hat auch mit Bernsteins Einsatz für dessen kompositorisches Œuvre zu tun. Denn während der Nazi-Herrschaft war Mahlers Musik verfemt. Es bedurfte einer veritablen Wiederentdeckung in den 1960er Jahren.

In seinem Fernsehessay „The Little Drummer Boy“ (entlehnt von Mahlers Lied „Der Tamboursg‘sell“) erleben wir Bernstein, wie er spricht, am Klavier musikalische Themen vorspielt und erklärt, und wir sehen Ausschnitte aus Mahlers Orchesterliedern und seinen Symphonien, von Bernstein dirigiert. Der Dirigent spricht manchmal dazu oder er erklärt, worauf es in dem betreffenden Ausschnitt besonders ankommt.

Bernsteins These ist, dass zwei verschiedene Inspirationsquellen für Mahler bestimmend wurden: zum einen die Texte aus der romantischen Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“, von denen Mahler viele vertont hat, zum andern die jüdischen Wurzeln des Komponisten. Die Spannung zwischen der jüdischen Religion und den Verheißungen der christlichen Heilserwartung prägten nach Bernsteins Auffassung Mahlers Schaffen. Jüdische oder vielmehr jiddische musikalische Elemente sind allenthalben in seinen Kompositionen hörbar. Und genau das zeigt die DVD an zahlreichen Beispielen (nicht zuletzt der 3. Symphonie!), so dass einem plötzlich die Ohren aufgehen. „Mahler verkündet unentwegt sein Christentum, aber nicht laut genug, um das Judentum in seinem Inneren zu übertönen.“

Mahler konvertierte 1897 zum Katholizismus. Dabei spielte taktisches Kalkül sicher auch eine Rolle, denn Wiener Hofoperndirektor, damals der begehrteste Posten in der Musikwelt, hätte er als Jude nicht werden können. Antisemitismus war zu Mahlers Zeit weit verbreitet und unverhohlen. Dennoch war die Hinwendung zum christlich-katholischen Glauben für Mahler wohl auch ein konsequenter Schritt, mit dem er inneren Überzeugungen folgte. Und dennoch verursachte ihm dieser Schritt viele spirituelle Qualen, wie Bernstein vermutet. „Mahler schämte sich, Jude zu sein. Aber noch mehr schämte er sich dafür, sich seines Judentums zu schämen.“

Man mag das für die Vermutungen eines leidenschaftlichen Amateurpsychologen halten - der allerdings selbst sehr genau wusste, wovon er sprach. Denn vermutlich ist die Annahme berechtigt, dass Bernstein in seinen Ausführungen indirekt über seine eigenen religiösen Wurzeln spricht.

Aber unabhängig davon ist dieser Essay ungeheuer beeindruckend: in Bernsteins engagierter Analyse, in der Souveränität seines Vortrags (der Originalton ist mit Untertiteln übersetzt) und nicht zuletzt durch die zahllosen, mittlerweile schon historischen Live-Aufnahmen. Hinreißend z.B. die Grande Dame der Sangeskunst, Christa Ludwig, die junge Edith Mathis oder Lucia Popp. Wunderbar das Israel Philharmonic, das London Symphony und die Wiener Philharmoniker. (Und ganz nebenbei: Schmunzelnd bemerkt man angesichts der Haartracht so manches Orchestermusikers und der Abendkleider der Sängerinnen im Stil der 70er, wie die Zeit vergeht…)

Dies ist keine langweilige, gelehrte Nachhilfestunde in Musikanalyse. Sondern ein unbedingt zu empfehlendes, berührendes Gesamtkunstwerk! Nicht nur für Mahler- und Bernstein-Fans!

 

Gustav Mahler – Leonard Bernstein: The Little Drummer Boy. DVD
(Deutsche Grammophon / DVD-VIDEO NTSC 0440 073 4350 0 GH)

Besprechung vom Oktober 2016

Sabine Skudlik