Gabriele von Arnim : Das Leben ist ein vorübergehender Zustand

Schmerz ist eine traurige Lebendigkeit

„Schmerz ist eine traurige Lebendigkeit. Verdrängung ist Verdumpfung,“ sagte Gabriele von Arnim bei einer Lesung aus ihrem Buch „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“. Die Journalistin und Autorin erzählt darin von den zehn Jahren, in denen sie ihrem Mann zur Seite steht, der durch zwei Schlaganfälle abrupt aus einer erfüllenden Berufstätigkeit herausgerissen und pflegebedürftig geworden war. Sie ermöglicht ihm ein Leben zuhause und zuletzt auch das Sterben in seiner vertrauten Umgebung.

Während dieser zehn Jahre entdeckt das Paar eine neue Nähe und Innigkeit zueinander. Den ersten Hirnschlag erleidet ihr Mann just an dem Tag, an dem von Arnim ihm eröffnet, dass sie nicht mehr mit ihm zusammenleben wolle, dass sie ihn „verloren habe, ihn nicht mehr finden könne, nicht wisse, wohin er gegangen sei.“

Nach zehn Tagen der zweite Schlaganfall. Nun ist eine Körperhälfte massiv eingeschränkt. „Er“ (die Autorin spricht im Buch nur von „er“ oder „ihm“) wird für den Rest seines Lebens auf den Rollstuhl angewiesen sein, das Schlucken ist schwierig, die Artikulation ebenfalls. Er kann nicht mehr lesen und schreiben. Aber seine geistigen und intellektuellen Fähigkeiten sind vollkommen klar.

„Wie ist es, mit wachem Geist hinter Mauern zu sein? Eingeschlossen im Gehäuse seines halbgelähmten Leibes.“ Er, der in seinem früheren Leben ein brillanter Moderator und charmanter Redner war, hört, begreift und reflektiert immer noch alles, aber kaum jemand kann seine Äußerungen verstehen. Seine Frau wird auch zur unentbehrlichen Übersetzerin.

Die Überlegung, ihn zu verlassen, ist angesichts der neuen Situation nicht mehr relevant. Sie wird im Buch nur noch am Rande thematisiert. Stattdessen schafft die Frau für ihren kranken Mann ein Heim, in dem sich beide wohlfühlen können.

Quasi leitmotivisch zieht sich durch das Buch das Thema Würde. „Die Frage der Würde begleitet einen in Zeiten wie diesen fast täglich.“ Und so reflektiert die Autorin immer wieder, was Würde konkret bedeutet. „Würde, sagt ein Freund, heißt annehmen, was einem abverlangt wird, ohne seine Haltung dabei zu verlieren.“

Das zweite „Leitmotiv“ ist Schönheit und es ist berührend zu lesen, wie ein unbedingter Wille zur ästhetischen Gestaltung diesen Alltag durchzieht und sich der Kranke wie auch seine Gefährtin an einer Blume, der Amsel auf dem Balkon, dem Blick in Baumkronen freuen können. (Wohl denen, die in erquicklichen Umgebungen zu leben sich leisten können…)

Dabei wird nichts beschönigt. Von Arnim erzählt auch von der Verzweiflung, dem Zorn, der Ungeduld, der Überforderung auf allen Seiten. Medizinische und pflegerische Details werden knapp, aber plastisch dargelegt. Die Hoffnung, dass sein Zustand sich bessert, dass motorische Fähigkeiten durch Übungen zurückkehren könnten, bleibt lange bestehen, auch wenn gute mit schlechten Tagen abwechseln: „Das sind vielleicht die schwersten Momente, wenn die Lust auf Zukunft von der Gegenwart aufgebraucht wird, wenn das düstere Jetzt uns beherrscht.“

Ein großes Thema sind auch Freund:innen und Bekannte aus früheren Tagen. Wer wendet sich ab, wer traut sich kommen, wer ist einfach da, wenn man ihn oder sie braucht? Die Frau organisiert einen Kreis von Vorleser:innen, die sich fast täglich abwechseln, und so mit Tageszeitungen und Literatur geistige Anregung ins Krankendasein bringen. Ein Lebenselixier.

Einfühlsam und mit großer sprachlicher Souveränität erzählt die Autorin von diesen zehn Jahren, aber auch von ihrer großen Trauer, ihrem Alleinsein und ihrer langsamen Rückkehr ins Leben nach dem Tod ihres Mannes. Mal spricht sie über sich selbst in der Ich-Form, manchmal wechselt sie in die 3. Person, mal schreibt sie im Ton eines Briefs an eine Freundin. Immer wieder zitiert sie auch aus Büchern, die ihr wichtig geworden sind, so dass man - quasi als Nebeneffekt - beim Lesen ihrer Reflexionen auch noch von ihrer umfassenden Bildung und Belesenheit profitiert.

Ein sehr beeindruckendes Buch, in jeder Hinsicht lesenswert, zum einen, weil es Versehrtheit, Krankheit, Leiden und Tod thematisiert und vielschichtig gedanklich umkreist – Themen also, die in unserer leistungsorientierten und jugendfixierten Gesellschaft oft an den Rand gedrängt werden.

Zum andern, weil dieser literarische Bericht auch in seiner sprachlich-literarischen Gestaltung Würde und Schönheit widerspiegelt.

Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand.
Rowohlt Verlag Hamburg 2021. 237 Seiten.

Besprechung vom Oktober 2021

Sabine Skudlik