Michael Cunningham : Die Stunden
Keine Angst vor Virginia Woolf
Raffinierte Komposition von Cunninghams „Die Stunden“
Ende März [2003] läuft in Deutschland der Film „The Hours“ (Die Stunden) an, dessen Hauptdarstellerinnen-Trio (Nicole Kidman, Julianne Moore und Meryl Streep) bei der Berlinale mit dem goldenen Bären gekürt wurde, der bei den Golden Globes zum besten Drama gewählt wurde und auch heißer Oscar-Anwärter ist. Der Film basiert auf der gleichnamigen Vorlage von Michael Cunningham, und dieser mit vielen Preisen ausgezeichnete Roman ist es sicher wert, dass man ihn genau liest - und nicht nur als „Buch zum Film“ zur Kenntnis nimmt.
Die Stunden eines Tages im Leben von drei verschiedenen Frauen verstreichen in diesem Werk. Da ist einmal die Schriftstellerin Virginia Woolf, die in einem Vorort von London in die Entstehung ihres neuen Romans verstrickt ist, der später einmal „Mrs Dalloway“ heißen wird, den sie aber während des Schreibens in ihrem Tagebuch „The Hours“ nennt. An diesem Tag im Jahr 1923 gelingen ihr die ersten Seiten.
Diese ersten Seiten liest an einem Sommermorgen des Jahres 1949 Laura Brown, Hausfrau, liebevolle Ehefrau, Mutter. Sie ist süchtig nach Büchern, braucht Lesestoff wie andere die Luft zum Atmen und wird an diesem Tag wenigstens für ein paar Stunden in das „Reich des Buches“ eintreten. Ihr labiles psychisches Gleichgewicht wird durch ihre Leseleidenschaft nicht eben stabilisiert.
Und dann ist da noch Clarissa Vaughan, Lektorin im New York des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die für ihren aidskranken Freund Richard eine Party veranstalten will, denn Richard ist ein erfolgreicher Autor und wurde mit einem wichtigen Literaturpreis geehrt. Richard hat Clarissa in Jugendtagen den Spitznamen „Mrs. Dalloway“ gegeben und nun erlebt diese einen Juni-Tag in New York, der bis in kleinste Nuancen dem Tag ihres literarischen alter ego entspricht, den Virginia Woolf in ihrem Roman „Mrs. Dalloway“ beschreibt.
Deshalb muss man streng genommen die von V.Woolf erfundene Romangestalt Clarissa Dalloway noch als vierte Frau mit dazu nehmen (und man kann die vielfältigen Bezugnahmen eigentlich nur genießen, wenn man Woolfs Roman, und am besten auch noch etwas biografisches Material über diese bedeutende Autorin gelesen hat).
Cunningham strickt ein höchst raffiniertes Netz zwischen diesen Frauengestalten. So unterschiedlich ihre Lebensumstände auch sind, so sehr ist ihnen ihr Hang zum Grübeln gemeinsam; ihre bewusste Wahrnehmung des Augenblicks und ihrer eigenen Befindlichkeit; der immer wieder aufkeimende Wunsch, aus diesem Leben heraustreten zu können. Unverhoffte Momente des Glücks, vollkommene Augenblicke, wechseln fast unvermittelt mit Versagensgefühlen oder der Furcht, vom Wahnsinn heimgesucht zu werden. Dies war eine ganz reale Angst, die Virginia Woolf nach schweren Depressionsschüben in jungen Jahren ihr Leben lang begleitet und letztendlich wohl auch in den Selbstmord getrieben hat.
Die Schilderung, wie Woolf sich im Fluss Ouse das Leben nimmt, stellt Cunningham als „Prolog“ vor seinen Roman. Todesgedanken ziehen sich leitmotivisch durch den ganzen Text, aber dennoch ist „Die Stunden“ kein bedrückendes Buch. Vielmehr ist es die Schilderung von Menschen, denen die ständige Nähe von Glück und Verzweiflung ganz bewusst ist und die nicht willens sind, die Suche nach ihrem richtigen Platz im Leben der alltäglichen Betriebsamkeit zu opfern.
Die Suche nach ihrem Standort, die Suche nach Liebe, die Suche nach Wahrheit (auch nach der „geisteskranken Wahrheit“, wie V. Woolf in ihrem Tagebuch schreibt), das verbindet die drei (beziehungsweise vier) Frauen mit ihrer Umgebung und auch untereinander, bevor in dem überraschenden Ende auch noch ein biografischer Bezug deutlich wird.
Soviel Innerlichkeit muss man mögen. „Die Stunden“ ist sicherlich kein Roman für jeden Geschmack, denn sehr viel Story ist da nicht! Meisterhaft ist die literarische Technik, mit der Cunningham aus den einzelnen Schicksalen eine fein verwobene Textur macht. Jedes Detail, jede scheinbare Nebensächlichkeit trägt dazu bei: die gelben Rosen, die Farbe des Lichts, ein Kuss... Bleibt die spannende Frage, wie sich diese atmosphärische Dichte in der Verfilmung ausnimmt!
Michael Cunningham: Die Stunden. Roman. (orig. 1998; dt. 2000) btb-Taschenbuch. 221 Seiten
Virginia Woolf: Mrs Dalloway. Roman. (orig. 1925). Fischer-Taschenbuch. 205 Seiten.
empfehlenswert als Hintergrundlektüre:
George Spater und Ian Parsons: Porträt einer ungewöhnlichen Ehe. Virginia und Leonard Woolf. (orig. 1977)
Überarb. Neuausg. Fischer-Taschenbuch 2002. 315 Seiten
Besprechung vom März 2003