Ulrike Draesner : Vorliebe
Alte Liebe – neue Liebe
Kompliziertes Verhältnis im Zeichen der Naturwissenschaft
Harriet ist Astrophysikerin. Sie „übersetzt“ Daten, die von elektronischen Weltraumteleskopen eingefangen werden, in surreal anmutende Bilder. Die Welt der Physik, Zahlen und Zahlenfolgen waren schon immer ihre Leidenschaft. Sie geben ihr Halt, wenn sie orientierungslos ist, und Trost in schwierigen Situationen.
Als ihr Lebensgefährte Ash beim Rechtsabbiegen mit dem Auto eine Radfahrerin übersieht und mit ihr kollidiert, nehmen die Komplikationen ihren Lauf. Denn der Mann der Verletzten ist Peter, Harriets große Liebe aus der Jugendzeit. Der Funke, der damals schon übergesprungen war, aber kein loderndes Feuer entzünden konnte oder durfte, entfaltet nun all seine Kraft. Peter und Harriet entbrennen in leidenschaftlicher Liebe füreinander. Dies alles natürlich nicht ohne schlechtes Gewissen. Denn Peter ist mittlerweile protestantischer Pfarrer.
Ash und Peters Frau Maria werden nach heimlichem Beginn der Affäre vor einer gemeinsamen Reise des Liebespaares in Kenntnis gesetzt. Und obwohl man sich nach außen hin aufgeklärt, gelassen und tolerant gibt, schlägt den Liebenden dennoch auf subtile Weise Abscheu und Aggression entgegen.
Eine radikal und kompromisslos personale Erzählweise ermöglicht ein sehr intimes und eindringliches Miterleben der Aufs und Abs der Gefühle. Vor allen Harriets Perspektive wird immer wieder aus der Innenschau heraus deutlich. Aber auch in Peters, Marias und Ashleys Wahrnehmung und Erleben wird der/die Leser:in immer wieder hinein genommen.
Harriet bewirbt sich während dieser turbulenten Zeit um eine Astronautenausbildung und macht Runde um Runde das strenge Auswahlverfahren mit. Einerseits stabilisiert dieses Vorhaben sie in ihrer Eigenständigkeit, sowohl Ash als auch Peter gegenüber. Andererseits ist es die einzige Stabilisierungsmöglichkeit überhaupt für sie, als die Liebesgeschichte auf abrupte und überraschende Weise ein Ende findet.
„Vorliebe“ ist ein auf fremde Weise faszinierendes Buch, in dem der Sprachwitz und die eigenwillige Erzählweise schön korrespondieren mit der Erfahrung, dass Liebe und Leidenschaft noch nie unkompliziert waren und es auch nicht werden unter den Vorzeichen kühl-rationaler Wissenschaftlichkeit.
Ulrike Draesner: Vorliebe. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 254 Seiten
Besprechung vom Oktober 2010