Ulrike Draesner : Sieben Sprünge vom Rand der Welt
70 Jahre und kein Ende
Fast 70 Jahre ist es nun [2014] her, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Fast 70 Jahre auch, dass erzwungene „Völkerwanderungen“, ausgelöst durch Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung, Millionen Menschen in Europa entwurzelten, um ihre Heimat brachten und sie in eine neue Umgebung stellten, die sie sich nicht ausgesucht hatten, und in ein neues Leben, das nicht immer gelingen wollte.
In ihrem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ fragt die Schriftstellerin Ulrike Draesner vor autobiografischem Hintergrund danach, was diese traumatisierenden Erfahrungen mit einem Menschen machen. Und ob das Trauma sich womöglich auf verborgene Weise „vererbt“, ob nicht Kinder und Kindeskinder ebenfalls daran zu tragen haben, ohne überhaupt zu wissen, worin die Last besteht.
Im Mittelpunkt des Romans steht der Affenforscher Eustachius Grolmann, Jahrgang 1930, der sich als 14-Jähriger im Januar 1945 von Schlesien aus mit seiner Mutter und seinem behinderten Bruder bei bitterster Kälte auf dem Weg nach Westen macht. Der Vater, der schon im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und im zweiten diverse Fronteinsätze überlebt hat, ist ganz am Ende noch zum Volkssturm eingezogen worden. Vater, Mutter und Eustachius finden sich später in Bayern wieder. Der ältere Sohn Emil hat die Flucht nicht überlebt – auch das ist eine Wunde, die nicht vernarben will.
Viele Jahre später hat Eustachius eine Tochter, Simone, Verhaltensforscherin wie ihr Vater, die mit einem Psychologen namens Boris Nienalt zusammentrifft. Dieser öffnet ihr die Augen, dass auch sie, die erst zu Beginn der 60er Jahre geboren wurde, am Flüchtlingsschicksal ihres Vaters zu tragen hat, und sei es durch all die Leerstellen in ihrer Kindheit, durch all das, was niemand ausspricht und niemand ihr erklärt, durch die miterlebte Sprachlosigkeit zwischen Vater und Großeltern, durch eigene Ängste, die sie sich in all ihrer intellektuellen Rationalität nicht erklären kann.
Boris weiß, wovon er spricht, denn auch er ist ein nachgeborenes „Flüchtlingskind“: Seine Mutter und Großeltern wurden durch die rigide Umsiedlungspolitik Stalins aus Lemberg, damals Ostpolen, nach Schlesien vertrieben. Diese Entwurzelten bezogen im kriegszerstörten Breslau die quasi noch warmen Häuser und Wohnungen der deutschen Vorbesitzer, (oder vielmehr das, was davon noch übrig war), schliefen in ihren Betten, trugen ihre zurückgelassenen Kleider, versuchten dort heimisch zu werden, wo andere ihre Heimat verloren hatten, sehnten sich aber selbst nach ihrem unwiederbringlich verlorenen Zuhause zurück.
Kann man das eine Leid gegen das andere aufrechnen? Hat man als Vertriebener einen größeren Rest Würde denn als Flüchtling? Wer war der schlimmere Verbrecher, Hitler oder Stalin? Wenn man sich von den Einzelschicksalen berühren lässt, erübrigen sich solche Fragen. Aber das Fragen und das Verstehen-Wollen hört nie auf – auch nicht 70 Jahre später – und so kommen im Roman auch die Töchter von Simone und Boris (geboren in den 1990er Jahren) zu Wort, die sich zwar mehr an den Problemen ihrer eigenen Gegenwart abarbeiten, aber dennoch spüren, dass ihre Eltern und Großeltern von den langen Schatten der Vergangenheit verfolgt werden.
Neun Personen und vier Generationen aus den Familien Grolmann und Nienalt kommen in Draesners Roman zu Wort, Lebende und schon Verstorbene, Deutsche und Polen. Neun Stimmen, aber dennoch mehr als neun Perspektiven, denn die mittleren Generationen sprechen sowohl als Kinder wie auch als Eltern. Und alle versuchen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Dabei gibt es sicher mehr als eine Wahrheit.
Draesner verschränkt virtuos die verschiedenen Blickwinkel, gibt den unterschiedlichen Personen einen jeweils ganz individuellen Ton, beschreibt, indem sie die Leser mit den Augen der jeweiligen Ich-Erzähler sehen lässt, erklärt, indem sie Freud und Leid im Erzählten erlebbar macht. Draesner, die auch etliche Gedicht- und Essaybände veröffentlicht hat, hat dafür eine sehr eindringliche Sprache gefunden, der man mitunter auch die Lyrikerin anmerkt.
Es gibt eine Rahmenhandlung in der Jetztzeit, die für sich allein einigen Unterhaltungswert besitzt: Der über 80-jährige Eustachius ist längst emeritiert, kann aber das Forschen nicht lassen und besorgt sich am Rande der Legalität zwei junge Menschenaffen, um mit ihnen sein Leben zu teilen, allerdings nehmen ganz unvermeidbar die kuriosen Verwerfungen ihren Lauf… Nicht zuletzt so manche Erkenntnis aus der Verhaltensforschung kontrastiert und kommentiert sehr gelungen die Beschäftigung mit der Vergangenheit, die für die Romanpersonen nicht endet, auch wenn sie sich über die Jahre ändert.
Ein ohne Einschränkung empfehlenswertes Buch, auch wenn man sich für die 560 Seiten Zeit nehmen und sie sehr aufmerksam lesen sollte, um die Vielschichtigkeit und das dichte Netz an impliziten Verweisen auszukosten.
Zum Roman gibt es eine begleitende, sehr informative Webseite mit historischen Hintergrundinformationen, Bildern, Meinungen, aber auch persönlichen Erinnerungen der Autorin sowie Erzählungen von Leserinnen und Lesern.
Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Roman. München (Luchterhand Literaturverlag) 2014.
560 Seiten. 21,99 Euro. Auch als E-Book.
siehe auch: www.der-siebte-sprung.de
Besprechung vom Juni 2014