Simonetta Agnello Hornby : Die Mandelpflückerin
Heilige oder Hure?
Ein Sizilienroman gibt Rätsel auf
Ins Sizilien des Jahres 1963 entführt uns der Roman „Die Mandelpflückerin“ von Simonetta Agnello Hornby. Eine Frau mittleren Alters ist gestorben, von allen die Mennulara (=die Mandelpflückerin) genannt. In ihrer Todesanzeige wird stehen „Verwalterin und Dienstangestellte des Hauses Alfallipe“.
Und damit beginnt bereits die Verwirrung. Eine einfache Dienstmagd, kann sie denn gleichzeitig die Güter von Großgrundbesitzern verwalten? Wie genau war nun das Verhältnis zur alten Signora Alfallipe, die nach dem Tod ihres Mannes nicht im heruntergekommenen Palazzo bleiben wollte, sondern stattdessen in die Wohnung der Magd zog, um dort von ihr versorgt zu werden? Und die drei erwachsenen Kinder, benehmen sie sich nicht einfach seltsam und widersprüchlich?
Gut ein Viertel seines Umfangs verwendet der Roman zu Beginn, um verschiedene Stimmen hörbar zu machen, Angehörige aller Schichten, die sich an die Mennulara erinnern und in ihrem Gedächtnis längst vergangene Tage wieder lebendig werden lassen. Die einen meinen, sie sei wie eine Heilige gewesen, selbstlos habe sie sich für den Dienst an der Familie Alfallipe aufgeopfert, ohne Rücksicht auf eigene Bedürfnisse. Die anderen vertreten den Standpunkt, sie sei eine Intrigantin gewesen, die nur ihren eigenen Vorteil im Kopf gehabt habe. Aber worin dieser Vorteil bestanden haben soll, wissen sie auch nicht zu sagen. Die nächsten wiederum vermuten Kontakte zur Mafia, wieder andere halten sie gar für eine Hexe.
Erst einmal macht sich also Verwirrung breit. Wer war die Mennulara, hat sie ein Geheimnis mit ins Grab genommen, oder stürzt sich nur die allgemeine Klatschsucht gierig auf ein neues Opfer? Das hat den wohlkalkulierten Effekt, dass man den Roman nicht mehr aus der Hand legt, denn als Leser:in ahnt man bereits: Da sind subtile Verflechtungen gesponnen, ein Netz von Beziehungen und Abhängigkeiten, da kommt es noch irgendwann zum großen Knall. Und zwar posthum!
So nimmt der Roman seinen Lauf. Hat man sich erst einmal in der Vielzahl von Herrschaften, Dienerschaften und Liebschaften zurecht gefunden, kennt man Arzt und Pfarrer und den Verbandsvorsitzenden sozusagen persönlich, dann lichtet sich allmählich das Dickicht.
So hat sich bereits eine gewisse Eigendynamik aufgebaut, als der Roman mit einigen Botschaften quasi aus dem Jenseits noch mehr Fahrt bekommt. Schon hat man geglaubt, nun hätten sich alle Fäden entwirrt, aber da kommt wieder ein neuer, unerwarteter Schwenk in der Geschichte.
Simonetta Agnello Hornby weiß offenbar, wovon sie schreibt. Die gebürtige Sizilianerin, Tochter aus adligem Hause, lebt seit mehr als 30 Jahren als Anwältin in London. Die Fäden zur Heimat indessen sind straff gespannt, so dass die Innenansicht als Einheimische mit der Außenansicht der „Ausgewanderten“ eine fruchtbare Melange ergibt.
Wenn auch manche Stilbrüche den Lesefluss stören, manche Figurenzeichnung psychologisch nicht ganz überzeugt, so gelingt doch das Porträt einer stolzen und selbstbewussten Frau, die versucht, die Grenzen ihrer niederen Herkunft zu überwinden und die dennoch an der Kluft jahrhundertealter Klassenschranken scheitert.
Simonetta Agnello Hornby: Die Mandelpflückerin. Roman. Ital. orig. 2002. Als Tb in der Serie Piper 4392. 2005. 304 Seiten.
Besprechung vom Okt. 2006