Paul Auster : Mond über Manhattan
Odyssee zur ureigensten Herkunft
„Ich brauchte nur weiterzugehen, um zu erfahren, daß ich mich selbst hinter mir gelassen hatte, daß ich jetzt nicht mehr der gleiche Mensch war wie früher.“ Diese Erkenntnis steht fast ganz am Ende des Romans „Mond über Manhattan“ des New Yorker Schriftstellers Paul Auster. Das 382-Seiten-Werk dreht sich um nichts anderes als die Frage nach dem Woher des männlichen Ich-Erzählers.
Oberflächlich gesehen stellt sich für den jungen Studenten Marco Stanley Fogg eher die Frage nach dem Wohin. Da er von einem Augenblick auf den nächsten lebt, ist er ziemlich häufig genötigt „zu überlegen, was ich als nächstes tun sollte. Das war inzwischen ein geläufiges Problem für mich.“ Der Grund für Foggs schwankendes, zufallsdeterminiertes Dasein liegt in seinem Mangel an greifbarer Vergangenheit. Die Mutter ist früh verstorben, der Vater nicht einmal dem Namen nach bekannt. Fogg wächst bei seinem Onkel auf. Als dieser ebenfalls überraschend stirbt, ist das ein schwerer Schlag für den ohnehin labilen Literaturstudenten. „Er war...meine einzige Verbindung zu etwas, das über mich selbst hinausging.“ Damit hält Fogg die Verbindung zur Außenwelt für endgültig gekappt. Er zieht sich vollständig auf sich selbst zurück. Damit löst er ganz unbeabsichtigt seinen Selbstfindungsprozess aus, den langen Weg von sich weg, in seine Vergangenheit hinein und zu sich selbst zurück.
Das geschieht auf mitunter reichlich skurrile Weise. Die Hinterlassenschaft des Onkels beispielsweise, mehr als tausend Bücher, dienen dem Helden in mehrfacher Weise als Lebens-Mittel. Erst, indem er die zahlreichen Bücherkisten zu Möbel-Ersatz-Stücken gruppiert. Dann indem er im wahrsten Sinn des Wortes mit den Büchern Geist und Leib ernährt, indem er sie erst alle liest und danach Stück für Stück bei einem Antiquar zu Geld macht.
M.S. Fogg treibt seine Selbstaufgabe auf die Spitze. Aber indem er völlig losgelöst von äußeren Zwängen und Bindungen der Sanduhr seines Lebens zusieht, wie sie langsam abläuft, öffnet er dem Zufall ein kleines Türchen. So gelangt er - scheinbar - von einen zufälligen Begegnung zur nächsten. Die fast hartnäckige Liebe einer Frau - auch sie eine Zufallsbekanntschaft - berührt und rettet ihn: nicht nur vor dem physischen Tod, sondern auch vor der psychischen Leere. Langsam gewinnt Foggs Leben wieder eine Richtung. Schritt für Schritt beginnt er, seinen Weg zu gehen.
Wiederum sind es Zufälle, die ihn in die temporäre Lebensgemeinschaft mit einem reichen, egozentrischen und recht absonderlichen Greis führen. Als dieser ihm schließlich seine abenteuerliche Vergangenheit erzählt, entdeckt Fogg manche Parallelen zu seinen eigenen Erfahrungen.
Die Erkenntnis, dass man mitunter bis hart an seine Grenzen gehen muss, um sich daran ausrichten zu können, ist der rote Faden, der sich durch die Geschichte dieses Großstadt-Nomaden zieht. Es ist die Geschichte einer Selbsterfahrung, einer Selbstfindung - aber nicht im Sinne von heutzutage so beliebten (und deshalb auch oft sehr beliebigen) Kuschelpsychoseminaren, sondern über den anstrengenden Weg wirklich existentieller Grenzgänge.
Manches an der Geschichte wirkt reichlich konstruiert, einige Seitenstränge auch überflüssig. Doch dafür wird man entschädigt durch Austers schlanken, geschmeidigen Erzählstil. Scharfe, treffend formulierte Beobachtungen, und witzige, geistreiche Dialoge ziehen den Leser in die Geschichte und halten ihn bei der Stange.
Paul Auster: Mond über Manhattan. Roman. (Amerikanisches Original 1989) Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1992. 382 Seiten.
Besprechung vom Feb. 2004