Philippe Claudel : Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung
Stille Hoffnung
Monsieur Linh besitzt die Gabe weiterzuleben
Monsieur Linh ist ein alter Mann, der sein kriegsgeschütteltes Land im fernen Osten als Flüchtling verlässt. Sein Sohn und seine Schwiegertochter sind bei einem Bombenangriff getötet worden, er hat sie gefunden, ebenso wie ihr erst wenige Wochen altes Kind, ein Mädchen mit dem Namen Sang diû. Das bedeutet „Süßer Morgen“ und ist nicht nur Name, sondern Verheißung.
Mit dem Kind in den Armen und einem kleinen verschnürten Koffer, der seine wenigen Habseligkeiten enthält, gelangt der alte Mann an die Küste und auf ein Schiff, das ihn in mehrwöchiger Fahrt in ein fernes, fremdes Land bringt. Kalt ist es hier, es verströmt keine Gerüche, weder vertraute noch ungewohnte. Man empfängt ihn und die anderen Heimatlosen mit der routinierten, unterkühlten Freundlichkeit einer bürokratischen Routine, die in den Flüchtlingen keine Einzelschicksale, sondern eine verwaltungstechnische Herausforderung sieht.
Mit anderen Familien aus seinem Land in einer Sammelunterkunft untergebracht, verbringt Monsieur Linh gleichmütig seine Tage. Er kümmert sich um sein Enkelkind, füttert es, zieht es warm an – und dennoch weiß man nicht, wer hier wen am Leben erhält. Denn „Süßer Morgen“ ist Hoffnungsschimmer und lebensfördernde Aufgabe zugleich für ihren Großvater. Ein seltsam „pflegeleichtes“ Kind, das nie schreit oder quengelt, sondern nur mit seinen großen Augen aufmerksam in die Welt blickt.
In die immer gleiche Routine kommt Bewegung, als Monsieur Linh auf seinen täglichen kleinen Spaziergängen durch die fremde, kalte, geruchsneutrale Stadt einen Einheimischen kennen lernt. Obwohl der dicke, Gemütlichkeit ausstrahlende Mann ahnt, dass Monsieur Linh kein Wort versteht, erzählt er ihm seine Lebensgeschichte. Und dieser ist ein aufmerksamer und teilnehmender Zuhörer. Zwar bleibt ihm die sachliche Information, dass der dicke Monsieur Bark erst vor kurzem Witwer geworden ist, verschlossen, dennoch entwickelt sich ein tiefes Verstehen zwischen den beiden Männern, die beide auf so unterschiedliche Weise einsam sind und eine gewissermaßen sprachlose Freundschaft zueinander aufbauen.
Gleichsam parabelhaft schreitet der Erzählfluss voran, und zwangsläufig kommt es zu einer Komplikation, dergestalt, dass das Flüchtlingsheim aufgelöst wird und Monsieur Linh woanders untergebracht wird, ohne dass dies sein Freund rechtzeitig erfährt. Aber natürlich kann das Buch so nicht zu Ende gehen, und geradewegs steuert die Erzählung auf ein Wiedersehen der beiden Männer zu.
Doch dann kommt es zu einem tragischen und zugleich tröstlichen Höhepunkt, der eine vollkommen unvermutete Wendung enthält, quasi eine rückwirkende Umdeutung der Geschichte, so dass am Ende ein großes Staunen und auch eine große Ergriffenheit bleiben.
All dies ist sehr sparsam erzählt, mit wenigen, klaren Worten, die nicht zuviel und nicht zuwenig sagen (und offenbar sehr einfühlsam aus dem Französischen übersetzt wurden). Ein sehr stilles Buch, das seinen „Effekt“ gewissermaßen aus dem Nichts erhält und gerade dadurch einen tiefen Eindruck hinterlässt.
Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung. Roman. (franz. Original 2005). Kindler Verlag 2006. 127 Seiten. 14,90 Euro. (auch als Hörbuch)
Besprechung vom Februar 2007